§ 5 Gnadenordnung – Stellungnahme zur Änderung der Gnadenordnung
Die Rechtsanwaltskammer Berlin und die Vereinigung Berliner Strafverteidiger e.V. äußern sich in einer gemeinsamen Stellungnahme zu der geplanten Änderung der Berliner Gnadenordnung.
Vor der inhaltlichen Stellungnahme wollen die Rechtsanwaltskammer Berlin und die Vereinigung Berliner Strafverteidiger e.V. ein gewisses Befremden darüber mitteilen, wann und mit welcher Frist den Vertretern der Anwaltschaft und insbesondere der Strafverteidiger Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wird. Das Änderungsvorhaben ist schon längere Zeit bekannt, und die Berufsverbände hatten schon verschiedentlich im Rahmen von Anfragen deutlich gemacht, dass eine Stellungnahme zum Änderungsvorhaben beabsichtigt ist. Die Berufsverbände haben daher erwartet, nicht erst nach Strafvollstreckungskammer, Staatsanwaltschaften und Gnadenausschuss angehört zu werden, sondern zur selben Zeit. Die Stellungnahmefrist war äußerst knapp bemessen und bestand im Wesentlichen aus den Osterferien. Es wird ausdrücklich gebeten, diesen Gesichtspunkten in der Zukunft Beachtung zu schenken.
Gleichwohl soll trotz dieser Umstände zu der vorgeschlagenen Änderung der Gnadenordnung Stellung genommen werden. Die beabsichtigten Änderungen beziehen sich inhaltlich ausschließlich auf die Frage, unter welchen Umständen ein Gnadengesuch die Strafvollstreckung hemmt, was in § 5 Gnadenordnung in der aktuellen Fassung aus dem Jahre 2009 wie folgt geregelt ist:
§5 Hemmung der Vollstreckung
(1) Das erste Gnadengesuch einer verurteilten Person hemmt die Vollstreckung in dem betroffenen Verfahren.
(2) Eine Hemmung der Vollstreckung tritt nicht ein, wenn
1. das Gesuch nicht mit Gründen versehen ist,
2. sich die verurteilte Person im Freiheitsentzug, auch in anderer Sache, befindet,
3. das Gesuch während einer Strafunterbrechung, während oder nach Ablauf eines Strafaufschubs gestellt wird,
4. die verteilte Person flüchtig oder fluchtverdächtig ist oder sich verborgen hält,
5. seit Zustellung der Ladung zum Strafantritt ein Monat vergangen ist,
6. das Gnadengesuch sich auf Ordnungs- oder Zwangsmittel bezieht.
(3) Die Senatsverwaltung für Justiz kann über die Voraussetzungen der Absätze 1 und 2 hinaus
1. die Vollstreckung vorläufig einstellen, wenn Anlass zu der Annahme besteht, dass das Gnadengesuch Erfolg haben könnte,
2. die sofortige Vollstreckung anordnen, wenn das Gnadengesuch offensichtlich unbegründet ist oder die sofortige Vollstreckung im öffentlichen Interesse liegt.
Die Vollstreckungsbehörde soll in dringenden Fällen diese Entscheidung fernmündlich herbeiführen.
Die beabsichtigte geänderte Fassung des § 5 Gnadenordnung Berlin lautet wie folgt:
§5 Hemmung der Vollstreckung
(1) In Verfahren, in denen Freiheitsstrafen, Jugendstrafen, Zuchtmittel, Maßregeln der Besserung und Sicherung oder Ordnungs- oder Zwangsmittel mit sanktionierendem Charakter verhängt worden sind, hemmt ein Gnadengesuch die Vollstreckung in dem betroffenen Verfahren nicht.
(2) In Verfahren, in denen Geldstrafen, Erziehungsmaßregeln, Nebenstrafen oder Geldbußen verhängt worden sind, hemmt das erste Gnadengesuch die Vollstreckung in dem betroffenen Verfahren.
(3) In den Fällen des Absatzes 2 tritt eine Hemmung der Vollstreckung nicht ein, wenn
1. das Gesuch nicht mit Gründen versehen ist,
2. sich die verurteilte Person im Freiheitsentzug, auch in anderer Sache, befindet,
3. das Gesuch während einer Strafunterbrechung, während oder nach Ablauf eines Strafaufschubs gestellt wird,
4. die verurteilte Person flüchtig oder fluchtverdächtig ist oder sich verborgen hält oder
5. seit Zustellung der Ladung zum Strafantritt ein Monat vergangen ist.
(4) Die für Justiz zuständige Senatsverwaltung kann in den Fällen der Absätze 1 und 3 die Vollstreckung vorläufig einstellen, wenn erhebliche Gnadengründe vorliegen und das öffentliche Interesse die sofortige Vollstreckung nicht erfordert. In den Fällen des Absatzes 2 kann die für Justiz zuständige Senatsverwaltung die sofortige Vollstreckung anordnen, wenn das Gnadengesuch offensichtlich unbegründet ist oder die sofortige Vollstreckung im öffentlichen Interesse liegt. Die Vollstreckungsbehörde soll in dringenden Fällen diese Entscheidungen fernmündlich herbeiführen.
Die Rechtsanwaltskammer und die Vereinigung Berliner Strafverteidiger e.V. lehnen die vorgeschlagene Änderung ab. Anlass des Änderungsvorhabens ist eine letztlich befürchtete – und nicht belegte – Verschleppung der Vollstreckung durch Gnadenanträge. Die Vorteile der bisherigen Regelung überwiegen.
Haft ist die strengste Sanktion die unsere Rechtsordnung kennt. Nach den Regelungen der aktuellen Fassung der Gnadenordnung hat ein Gnadenantrag aufschiebende Wirkung, wenn er mit Gründen versehen ist und vor dem Haftantritt durch den Verurteilten gestellt wird. Dies soll durch die beabsichtigte Änderung abgeschafft werden.
Der Haftantritt erfolgt auf eine Ladung der Staatsanwaltschaft als Strafvollstreckungsbehörde in die nach dem Strafvollstreckungsplan vorgesehene Justizvollzugsanstalt. Die Ladungsfrist beträgt in der Regel zwei Wochen. Der Haftantritt ist mit einschneidenden – meist nicht reversiblen – Folgen für den Betroffenen verbunden. In Fällen begründeter Gnadengesuche können die Nachteile, die durch den sofortigen Antritt der Strafhaft entstehen, daher kaum mehr ausgeglichen werden. Hier seien z.B. die Nachteile benannt, die dadurch entstehen, dass die ordnungsgemäße Beendigung eines Arbeitsverhältnisses respektive eines Auftrags durch einen Selbstständigen, die fristgemäße Kündigung eines Mietverhältnisses oder die Sicherstellung der Versorgung minderjähriger Kinder innerhalb der Ladungsfrist nicht möglich ist. Dies gilt umso mehr, als es für den Verurteilten nicht voraussehbar ist, zu welchem Zeitpunkt nach der Rechtskraft seines Urteils er die Ladung zum Strafantritt erhält. Hier können in Berlin teilweise Monate vergehen. Damit besteht für den Verurteilten keinerlei Planungssicherheit.
1.
Eine Notwendigkeit für eine Änderung der jetzigen Regelung besteht nicht. Es fehlen schon belastbare Fakten, die belegen, dass es durch missbräuchliche Stellung von Gnadenanträgen zu einer Verschleppung der Vollstreckung kommt, deren Relevanz über wenige Einzelfälle hinausgeht.
Hierzu heißt es in der anlassgebenden „Evaluation der Einweisungspraxis im offenen Vollzug unter besonderer Berücksichtigung der Zusammenarbeit zwischen der Staatsanwaltschaft Berlin und der Anstalt des Offenen Vollzuges Berlin“ („Töpfer-Bericht“) unter der Überschrift „Verzögerung der Vollstreckung“ lediglich:
„Im Rahmen der Evaluation war festzustellen, dass in einer erheblichen Anzahl von Fällen bei Selbststellern zwischen der Verurteilung und dem Strafantritt Zeiträume von teilweise über einem Jahr verstrichen sind. Dies ist unter anderem auf die nach § 5 der Gnadenordnung des Landes Berlin hemmende Wirkung von Gnadengesuchen zurückzuführen.“
Das „unter anderem“ indiziert schon, dass es nicht allein die Gnadengesuche sind, die zu einer Verzögerung der Vollstreckung führen.
Auch die Senatsverwaltung selbst schreibt in ihrem Anschreiben an die Verbände vom 20. März 2014 nur von einem „eventuellen“ Szenario.
Weitere, die Verzögerung der Vollstreckung bedingende Faktoren werden nicht mitgeteilt, so dass es an einer nachvollziehbaren Basis für eine Entscheidung – und eine Stellungnahme – mangelt. So wäre es z.B. interessant, belastbare Zahlen dazu zu haben, welche Zeit durchschnittlich zwischen Stellung des Gnadenantrags und dessen Bescheidung vergeht, um überhaupt beurteilen zu können, inwiefern von einer relevanten zeitlichen Verzögerung bei der Strafvollstreckung ausgegangen werden kann.
Es muss bezweifelt werden, ob derartige Zahlen der Senatsverwaltung vorliegen:
Eine kleine Anfrage des Abgeordneten Dr. Simon Weiß (PIRATEN) vom 9. September 2013 zur Dauer zwischen Ladung und Strafantritt, der Anzahl der Gnadengesuche und Gnadenersuchenden, der Anzahl der Gnadengesuche mit vollstreckungshemmender Wirkung sowie der durchschnittlichen Dauer dieser Hemmung seit 2010 konnte vom zuständigen Justizsenator lediglich im Hinblick auf die Anzahl der gestellten und stattgebenden Gesuche beantwortet werden (vgl. http://pardok.parlament-berlin.de/starweb/adis/citat/VT/17/KlAnfr/ka17-12634.pdf). Zu den übrigen Fragen heißt es, dass eine statistische Erfassung wichtiger Daten, insbesondere wie häufig ein Gnadengesuch die Vollstreckung in der Praxis tatsächlich verhindert und wenn ja, wie lange, nicht vorgenommen wird. Damit kann darüber keine Aussage getroffen werden. Nicht anders verhält es sich auf Bundesebene, für die eine amtliche Gnadenstatistik nicht existiert (Birkhoff/Lemke, Gnadenrecht, Rn. 338).
Auf welche Grundlage sich die Begründung des Gesetzentwurfs stützt, in der es heißt, dass die überwiegende Zahl der Gnadengesuche, welche Freiheits- und Jugendstrafen betreffen, abgelehnt werden, ist daher hier nicht nachvollziehbar. Die vom Justizsenator in Beantwortung der kleinen Anfrage vorgelegte Statistik für die Jahre 2010, 2011 und 2012 gibt darüber jedenfalls keinen Aufschluss. Im Gegenteil: Ausweislich dieser Statistik ist die Anzahl der Anträge kontinuierlich gesunken, während die Anzahl stattgebender, also erfolgreicher (und damit nicht missbräuchlicher) Gesuche prozentual gestiegen ist (2010: 37,52 %, 2011: 41,98%, 2012: 43,22%, 2013 (anteilig): 47,72%). Diese wenigen Zahlen lassen befürchten, dass es für die geplante Änderung der Gnadenordnung an einer faktenbasierten Notwendigkeit fehlt.
Nach hier vorliegenden – statistisch indes nicht belegten – Erfahrungen vergehen in der Regel zwischen Antragstellung und Bescheidung 3 Monate. Dieser – angesichts der Eilbedürftigkeit von Gnadensachen – nicht ganz kurze Zeitraum entsteht wohl vor allem dadurch, dass die Gnadenanträge mit den Vollstreckungsakten von der Gnadenbehörde zuvor dem erkennenden Gericht und der Vollstreckungsstaatsanwaltschaft zur Kenntnisnahme zugeleitet werden. Dieses Prozedere erklärt sich nicht von selbst, weil mögliche Gnadengründe von der verurteilten Tat unabhängig sind – oder jedenfalls sein sollten –, und demnach weder das Gericht noch die Vollstreckungsstaatsanwaltschaft der Gnadenbehörde einen Erkenntnisgewinn für deren Entscheidung bringen kann.
Wie es aber zu einer Verschleppung von bis zu einem Jahr kommen soll, erklärt sich auch damit nicht. Es liegen aber erhebliche Anhaltspunkte dafür vor, dass dieser lange Zeitraum darauf zurückzuführen ist, dass zwischen der Verurteilung und der Ladung zum Strafantritt häufig Monate vergehen. Dies wiederum ist aber insbesondere in einer mangelnden personellen Besetzung der Vollstreckungsstaatsanwaltschaft begründet. Zwar sind dort ca. 30 Rechtspfleger beschäftigt, es ist aber ein hoher Krankenstand zu verzeichnen. Dies führt nicht nur zum Ausfall von Arbeitskräften, sondern insbesondere dazu, dass die Zuständigkeit in den einzelnen Fallakten immer wieder wechselt, sprich: Akten „hin- und hergeschoben“ werden. Hier decken sich die Erfahrung von Strafrichtern und Verteidigern gleichermaßen, wonach die Vollstreckungsstaatsanwaltschaft weder über Telefon, noch per Fax zu erreichen ist und es dementsprechend üblich geworden ist, in eiligen Sachen dort persönlich vorzusprechen und/oder Schriftsätze persönlich abzugeben. Wenn man – völlig berechtigt – die Vollstreckung beschleunigen will, sollte hier angesetzt werden.
2.
Die Änderung ist auch nicht geeignet, das mit ihr verfolgte Ziel zu erreichen. Ausweislich des bereits zitierten Schreibens der Senatsverwaltung soll die Änderung der Gnadenordnung Berlin einer „missbräuchlichen Verfahrensverschleppung“ entgegenwirken.
Hierzu ist anzumerken, dass schon nach jetziger Rechtslage ein Missbrauch nahezu ausgeschlossen ist: Soweit Anträge ohne Begründung gestellt werden, haben diese schon nach jetzigem Recht keine aufschiebende Wirkung (§ 5 Abs. 2 Nr. 1 GnO). Liegt eine unzureichende Begründung vor, kann der Antrag durch den Gnadenausschuss kurzfristig abgelehnt werden, insbesondere, da der Bescheid der Gnadenbehörde keine Begründung enthalten muss (§ 2 Abs. 3 GnO). Ist hingegen ein Antrag gut begründet, so liegt keine missbräuchliche Antragsstellung vor. In diesen Fällen – auch wenn der Antrag letztendlich abgelehnt wird – überwiegt nämlich das Inte-resse des Antragstellers, für den die sofortige Inhaftierung regelmäßig ein erhebliches Übel bedeutet, an der kurzfristigen Aufschiebung der Vollstreckung.
3.
Schließlich ist auch nicht nachvollziehbar, warum zu einer Geldstrafe Verurteilte – deren Geldstrafe in eine Freiheitstrafe umgewandelt wurde – nicht von der Regelung des § 5 Abs. 2 GnO erfasst sein sollen. (Dies ergibt sich aus § 5 Abs. 3 Nr. 5 GnO, der andernfalls überflüssig wäre.) Es gibt vielerlei Gründe, warum Verurteilte ihre Geldstrafe nicht rechtzeitig zahlen und es auch nicht schaffen, rechtzeitig einen diesbezüglichen Gnadenantrag zustellen. Warum hier dann auf einer Vollstreckung bestanden werden soll, statt den Verurteilten auch noch zu diesem (späten) Zeitpunkt zu ermöglichen, Gnadenanträge zur Höhe und Modalität der Zahlung ihrer Geldstrafen zu stellen, erklärt sich nicht. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass Gnadengesuche, welche Geldstrafen betreffen, „überwiegend positiv beschieden“ werden.
4.
Letztendlich ist auch die Gruppe der Verurteilten von der Neuregelung unangemessen betroffen, die zu einer Freiheitsstrafe von weniger als zwei Jahren verurteilt wurden, die sich auf freiem Fuß befinden und deren Straftat auf eine Betäubungsmittelabhängigkeit zurückzuführen ist, ohne dass die Voraussetzungen für eine positive Bescheidung nach § 35 BtMG gegeben sind. Derartige Fälle kommen in der Praxis immer wieder vor, und häufig ist dann der Weg über die Gnadenbehörde die einzige Möglichkeit für diese Betroffenen, die Möglichkeit der „Therapie statt Strafe“ zu erhalten.
5.
Es sei im Übrigen auf folgendes hingewiesen: Auch nach der geplanten Änderung steht es dem Verurteilten frei, einen Antrag auf aufschiebende Wirkung seines Gnadenantrags zu stellen (§ 5 Abs. 4 S. 1 GnO). Weiterhin ist geplant, dass die Prüfung des Antrags auf Herstellung der aufschiebenden Wirkung und die eigentlichen Begründetheitsprüfung in einem 2-Stufen-System stattfinden sollen. Zur ersten Prüfungsstufe (Herstellung der aufschiebenden Wirkung) sollen die Akten wiederum dem Gericht und der Vollstreckungs-StA zugeleitet werden. Dieses dürfte – unabhängig von einer organisatorischen Mehrbelastung der Gnadenbehörde – auch dazu führen, dass es bei derselben Verfahrensdauer verbleibt.
Diana Blum
Rechtsanwältin
(für den Vorstand der RAK Berlin)
Martin Rubbert
Rechtsanwalt
(1. Vorsitzender der Vereinigung Berliner Strafverteidiger e.V.)